Nach der Reform des Sexualstrafrechts kommt es in der praktischen Rechtsanwendung zu Überschneidungen zwischen der alten und der neuen Rechtslage. Bei der Strafzumessung sind die Gerichte verpflichtet, das jeweils mildere Gesetz anzuwenden. Dabei unterlaufen den Gerichten nach wie vor gravierende Fehler. Von Strafverteidiger Christoph Klein, Fachanwalt für Strafrecht, Köln
Gemäß § 2 Abs. 1 StGB wird eine Tat nach dem Gesetz geahndet, welches zur Zeit der Tat in Kraft war. § 2 Abs. 3 StGB verpflichtet jedoch die Gerichte, die Tat nach dem milderen Gesetz zu bestrafen, wenn das Gesetz, welches zum Zeitpunkt der Tat in Kraft war, bis zum Tag des Urteils geändert wurde.
Aufgrund der aktuell geänderten Gesetzeslage durch die Reform des Sexualstrafrechts kommt dieser Norm, die dem Anwalt für Sexualstrafrecht zwingend bekannt sein muss, derzeit eine hohe Bedeutung zu. In der jüngeren Vergangenheit hat der Bundesgerichtshof mehrere Urteile aufgehoben, in denen die Gerichte fehlerhaft nicht das mildere Gesetz angewendet hatten.
Geänderte Rechtslage beim Missbrauch widerstandsunfähiger Personen
Der Missbrauch widerstandsunfähiger Personen wurde nach der alten Gesetzeslage gemäß § 179 Abs. 1 StGB a. F. (alte Fassung) mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren bestraft. Diese Norm ist seit dem 10.11.2016 außer Kraft. Das dort erfasste Verhalten ist nunmehr in der Nachfolgeregelung des § 177 StGB n. F. (neue Fassung), insbesondere in den Abs. 2 Nr.1 (sexuelle Handlung, bei der der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern) und Nr.2 (sexuelle Handlung, bei der der Täter ausnutzt, dass die Person aufgrund ihres körperlichen und psychischen Zustandes in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert) erfasst. Der Strafrahmen beträgt hier sechs Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe. Vollzieht der Täter mit dem Opfer den Beischlaf wäre nach der alten Rechtslage gemäß § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB aF und § 177 Abs. 6 Nr. 1 StGB nF jeweils auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen.
Relevant wird die Regelung des § 2 Abs. 3 StGB jedoch dann, wenn bei dem Angeklagten ein Fall verminderter Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB angenommen werden kann. Der Bundesgerichtshof hat in dieser Fallkonstellation mit Beschluss vom 10. Oktober 2017 -5 StR 363/17ein Urteil des Landgerichts aufgehoben und ausgeführt, wie in einer derartigen Fallkonstellation vom Landgericht hätte geurteilt werden müssen:
„Bei der Bestimmung des anzuwendenden Rechts nach § 2 Abs. 3 StGB kommt es auf einen konkreten, d.h. die Umstände des Falles berücksichtigenden Vergleich der Rechtszustände an. Es hätte deshalb zuerst der Prüfung bedurft, ob wegen der Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten nach altem Recht ein minder schwerer Fall des nach § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB aFqualifizierten Missbrauchs widerstandsunfähiger (Strafdrohung: Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren) anzunehmen gewesen wäre oder ob nach neuem Recht deswegen von der Regelung des auch für Taten nach § 177 Abs. 2 StGB nF geltenden § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF abzusehen und der Grundstrafrahmen (Strafdrohung: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren) anzuwenden gewesen wäre. Bejahendenfalls wäre das neue Recht als das mildere Recht anzuwenden gewesen.“
Das Landgericht hatte die notwendige Prüfung des § 2 Abs. 3 StGB vollständig übersehen und somit die Strafe rechtswidrig nicht nach dem milderen Gesetz gefunden.
Sexualdelikte werden nicht selten erst nach einem langen Zeitraum aufgedeckt und vor Gericht verhandelt. Die Notwendigkeit der Feststellung, welches Strafgesetz milder ist, gilt jetzt und in Zukunft für alle Taten, die vor dem 10. November 2016 stattgefunden haben. Es handelt sich somit um eine Regelung von enormer praktischer Relevanz